Montag, 6. August 2012

Perspektiven der Menschheitsentwicklung

aus: GA 204, 16. Vortrag Dornach, 3. Juni 1921

Wir entwickeln die Bewußtseinsseele seit der Mitte des 15. Jahrhunderts; aber wir haben nur noch den Schatten des Verstandes (Anm.: da die Verstandes-Seele bereits davor voll entwickelt wurde). Wenn der Mensch heute seine Begriffe entwickelt, nun, er ist wahrhaftig weit genug entfernt von der Vorstellung, daß da ein Engel in ihm erkennt. Er denkt sich nun halt: Ich denke da etwas aus über die Dinge, die ich erfahren habe. Er redet jedenfalls nicht davon, daß da eigentlich ein geistiges Wesen (d.h. Engel) vorhanden ist, das da erkennt, oder gar ein noch höheres geistiges Wesen (d.h. Erzengel), das durch sein Selbstbewußtsein vorhanden ist.

Dasjenige, womit der Mensch heute die Dinge zu erkennen versucht, das ist der Schatten des Intellektes, wie er sich für die Griechen, zum Beispiel für Plato und Aristoteles, wie er sich selbst für die Römer noch herausgebildet hat.

Aber gerade das, meine lieben Freunde, daß wir uns durch den Verstand nicht mehr zu beirren lassen brauchen, das kann uns weiterhelfen. Die Menschen laufen heute einem Schatten nach, dem Verstande in ihnen, dem Intellekt. Von dem lassen sie sich beirren, statt zu streben nach Imagination, nach Inspiration, nach Intuition, die nun wiederum in die geistige Welt, die eigentlich uns umgibt, hineinführen.

Daß der Verstand schattenhaft geworden ist, das ist ja gerade gut. Aber wir haben zunächst mit diesem schattenhaften Verstande die äußere Naturwissenschaft gegründet. Wir müssen von ihm aus weiterarbeiten, und Gott ist zur Ruhe gekommen, damit er uns arbeiten lasse. Der vierte Zustand (also die Verstandes-Seele) ist heute vollends da. Der Mensch muß sich nur dessen bewußt werden. Und ohne daß er sich dessen bewußt wird, kann nichts weiter sich bilden auf der Erde. Denn dasjenige, was die Erde als Erbstück empfangen hat, das seit dem 4. Jahrhundert untergegangen. Neues muß gegründet werden.

Im 9., 10., 11. Jahrhundert war Weltuntergangsstimmung. Nachher kamen die Kreuzzüge. Sie haben nichts eigentlich gebracht, weil ja im Materiellen gesucht worden ist dasjenige, was im Geiste hätte gesucht werden sollen. Nun, da die Kreuzzüge nichts gebracht hatten, kam den Menschen, man möchte sagen, zunächst wie eine Aushilfe, die Renaissance. Das Griechentum wurde wieder erschlossen, dasjenige, was heute unter den Menschen als Bildung verbreitet wird, das Griechentum war wieder da, es war aber zunächst nicht da als ein Neues.

Das Neue war nur in Bezug auf die äußere Natur in mathematisch-mechanischen Vorstellungen da seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts. Dafür aber waren da die Trümmer des Altertums. Unseren jungen Leuten werden die Trümmer des Altertums als Gymnasialbildung eingepfropft. Sie bilden dann die Grundlage der Zivilisation. Oswald Spengler hat diese Trümmer der Renaissance angetroffen. Wie erratische Blöcke schwimmen sie auf dem Meer, das weiteres erzeugen will. Aber schaut man nur hin auf diese Eisblöcke, die da schwimmen, dann sieht man den Untergang. Denn dasjenige, was da aus dem Alten sich erhalten hat, ist in Untergangsstimmung, und niemand kann galvanisieren dasjenige, was unsere heutige Bildung ist. Die geht zugrunde. Eine andere Zivilisation muß aus dem Geistigen heraus durch Urschöpfung geschaffen werden, denn der vierte Zustand (die Verstandes-Seele) ist da.

So muß Scotus Erigena verstanden werden, der sich seine Weisheit - ich möchte sagen, für ihn schon schwer verständlich - aus der Irischen Insel herübergebracht hatte, aus den Mysterien, die da auf der Irischen Insel gepflegt worden waren; das muß man heute aus dem Scotus Erigena herauslesen. Und so spricht nicht nur dasjenige, was man aus der Geisteswissenschaft als Urerkenntnis haben kann, sondern so sprechen auch die Dokumente der älteren Zeiten, wenn man sie wirklich verstehen will, wenn man endlich loskommen will von dem Alexandrinismus der neueren philosophischen Wissenschaft, welche sich Philologie nennt. Man muß schon sagen, so wie diese Dinge getrieben werden heute, merkt man weder viel von Philologie noch von Philosophie. Wenn man die Einpaukereien und die Examensordnungen in unseren Bildungsanstalten sich anschaut, dann ist von «Philo» außerordentlich wenig vorhanden, das muß schon aus einer anderen Ecke heraus kommen, aber wir brauchen es wiederum.

Ich wollte Ihnen zeigen, wie man die Wege erst suchen muß, um dasjenige, was verschüttet ist von der Urweisheit, in der richtigen Weise fassen zu können. Solche Tatsachen beachten ja die Menschen heute nicht, daß im Johannes-Evangelium klar ausgesprochen ist:

Der Logos ist das Schöpferische, nicht der Vatergott.

1 Kommentar:

LaBellaVita hat gesagt…

Dein Blog ist sehr schön :) ich freue mich auf weitere Posts :)

schönen Sonntag noch